Am Horizont ist noch lange nicht Schluss – Yamaha Ténéré 700 World Raid

Mit der Ténéré 700 riskierte Yamaha 2019 viel, als sie eine elektronisch gesehen eher puristische Reiseenduro auf den Markt brachten und im darauffolgenden Jahr noch die Rally-Variante nachlegten. Der Erfolg gab ihnen jedoch recht und so holen die Japaner nun zum dritten Aufschlag mit der Ténéré 700 World Raid aus. Rally-like ähnlicher zweiteiliger 23-Liter-Tank, verlängerte Federwege, 3-stufig einstellbares ABS und hochkant TFT-Display lassen uns bei einem ausgiebigen Fahrtag in der Wester Kulisse Andalusiens vom Abenteuer und Weltreisen träumen.

Yamaha Ténéré 700 World Raid – macht mächtig Eindruck in ihrem edlen blauen Kleid

Never Change an Running System!

Nach der XT600 Ténéré 1983, mussten Fans fast 40 Jahre auf eine adäquate Nachfolgerin warten. Vor 3 Jahren war es dann endlich soweit und Yamaha brachte einen unaufgeregte und auf´s Wesentliche fokussierte Ténéré 700 an den Start. Sie verzichtete bewusst auf, inzwischen von vielen nicht mehr wegzudenkenden, elektronischen Schnickschnacks, ist unkompliziert und ihrer Geschichte entsprechend geländegängig – nach dem Motto „packe nur das rein, was du wirklich brauchst um Spaß zu haben und glücklich zu sein! Dazu lange Serviceintervalle, eine gute Qualität, zeitgemäßem Rally-Design und durch eben fehlenden over the top Zeug zu einem ansprechenden Preis.

Die World Raid Version setzt weiterhin auf diese Tugenden und auch auf das drehmomentstarke und vielfach (inzwischen über 220.000-mal) verbaute CP2 Reihenzweizylinder Aggregat sowie dem Grundgerüst der Basis Ténéré 700. Fahrmodi oder sonstige elektronische Assistenz Systeme sucht man weiter vergeblich, braucht sie allerdings auch nicht. Einzig ein Quickshifter und evtl. Tempomat für längere Verbindungsetappen würde sie aufwerten.

Bewährtes CP2 Aggregat
Leider ohne Quickshifter

Bei den sehr feinfühlig dosierbaren 73 PS und 68 Newtonmetern, braucht es auch keine Fahrmodi oder Tranktionskontrolle. Einzig das ABS wurde für den Einsatz im Gelände nun 3-Stufig ausgelegt, sodass mit voller Unterstützung (Stufe 1), nur vorne oder gar ohne ABS ins Abenteuer gegangen werden kann. Nach betätigen des Kill-Schalters oder ausschalten der Zündung, stellt sich allerdings jeweils Stufe 1, also mit voller ABS-Unterstützung ein. Dies kann gerade bei einem kurzen Halt nervig werden, wenn man es dann vergisst wieder zu ändern oder schnell weiter möchte, da nur im Stand eine Einstellung möglich ist. Ob dies so durch die EURO-Norm gefordert wird oder Yamaha den absolut sicheren Weg gehen möchte, ließ sich nicht herausfinden. Der Lifehack dazu: im Stand abwürgen.

Sportliche Stopper die auch im Dreck top funktionieren
Super Display aber nervige Bedingung

Wer will, kann erst nach 500 Kilometer stoppen

Beim ersten Betrachten der World Raid mag man eine Doppelsichtigkeit am Tank feststellen. Doch muss hier keiner zum Arzt, sondern in Zukunft an der Tankstelle zwei Tanks befüllen. Yamaha hat einen in zwei Teilen getrennten 23 Liter Tank verbaut, welcher so links und rechts Schwerpunktoptimiert platziert werden konnte. Somit kann trotz des Mehrgewichtes die Balance gehalten und das Ziel eines jeden Konstrukteurs der Massenzentrierung begünstigt werden. Mit 220 Kilogramm ist die World Raid gut 32 Pfund schwerer, was aber durch eben solch konsequente Maßnahmen nicht wirklich ins Gewicht fällt. Für entsprechenden Ausgleich der Füllstände sorgt eine Verbindung, die unter bestimmten Voraussetzungen dasselbe Tankniveau in den Kammern herstellt. Durch diesen Kniff konnte auch die Sitzbank deutlich besser konstruiert, flacher ausgelegt und weiter vorne positioniert werden, was dem Fahrer mehr Freiheiten auf dem Bike gibt. Trotz breiterem Tankschluss finden Beine und Knie angenehm ihre Position.

Yamaha-seitig werden 4,3 Liter Durchschnittsverbrauch auf 100 Kilometer angegeben, doch liefen im Test gut 5,1 Liter durch die Brennräume, was allerdings auch an extrem zügigen Landstraßen und sportlichem Geländeeinsatz liegen mag.

Schwerpunktoptimiert angebrachte Tanks und der sehr präzise arbeitende Öhlins Lenkungsdämpfer

Regelbare Agilität dank Öhlins Lenkungsdämpfer

Von der Sitz-Ergonomie her hat man durch die Zwei-Tanklösung deutlich mehr Freiheit für den Fahrer geschaffen, der nun besser mit der Ténéré spielen kann. 890 Millimeter Sitzhöhe sind zwar eine Ansage, doch ermöglicht ein geringe Schrittbogen und die schmale, etwas langstreckentauglicher ausgelegte Sitzbank, auch kleineren Piloten einen sicheren Stand – mit 1,70 Meter Größe, konnte ein Kollege noch immer mit den Zehenspitzen einen guten Stand finden. Etwas knifflig wird es, bei gerade größeren Stiefeln, mit der Seitenständerbetätigung. Der Ausleger ist nicht immer gleich auf Anhieb zu erreichen und könnte etwas länger sein.

Insgesamt sitz man sehr komfortabel und agil, sodass auch längere Überlandfahrten entspannt absolviert werden können. Das Windschild leistet hier sicher seinen Beitrag, so ist es 15 Millimeter höher ausgelegt und wird bei seiner Arbeit durch die etwas breitere Front unterstützt, was mir mit meinen 193 Zentimeter jegliche störenden Verwirbelungen nahm.

Um zu viel Agilität bei hartem Geländeeinsatz zu regulieren, verbauen die Japaner einen sehr edlen und immer präsenten Öhlins Lenkungsdämpfers, welcher schnell per kleinem Drehrad 18-fach justiert werden kann, sehr fein arbeitet, dabei aber nie störend eingreift.

On wie Off-Road mit viel Vertrauen und Speed

Die zur Basis-Ténéré um 15 Millimeter gestiegene Sitzhöhe ist mitunter der um 20 Millimeter vergrößerten Federwege vorne und hinten geschuldet, welche nun 230 bzw. 220 Millimeter betragen und somit ausreichend Reserven für jeden Zweck bieten.

Insgesamt ist die 43 Millimeter starke KYB Upside-down-Gabel und der mit Piggyback-Ölbehälter versehende KYB-Monodämpfer hinten ein absoluter Zugewinn und Basis für unendlichen Fahrspaß. Durch die voll einstellbare Federwege, Zug- und Druckstufen, lässt sich das Optimum für jeden herausfinden und einstellen. So versorgt einen das Bike mit klarem Feedback und schafft hierdurch viel Vertrauen und Gefühl auf jeden Untergrund. Ihr übriges tragen sicher auch die Pirelli Scorpion Rally STR-Reifen bei, die im Dreck hervorragend performen einer flotten Straßenrunde aber auch nicht abgeneigt sind.

Edel, mächtig, Top – KYB Upside-down-Gabel
Mächtig Grip in allen Lagen – Pirelli Scorpion Rally STR

Erstaunlich straff und sportlich, kann man mit Ihr kurvige Passstraße befahren und hierbei Schräglagen erleben, die süchtig machen. Eh hängt sie sehr fein am Gas und zieht linear und vor allem sehr nachdrücklich bis gut 160 durch.

Display Top, Bedienung Glückssache

Durchziehen würde man auch gerne die Menübedienung, doch da wird es unpräzises. Viel Elektronik und Einstellmöglichkeiten gibt es zwar nicht – was noch immer eine Freude ist und die Komplexität reduziert – doch das wenige lässt sich über ein Rollrad rechts am Lenker bedienen. Und hier ist wohl das einzige Manko der Japanerin! Man hat eine Standard-Bedieneinheit verbaut, welche insbesondre im Gelände und bei Staubeinwirkung teilweise nur schwer zu bedienen war. Auch musste man den Druckpunkt richtig treffen, um zB. schnell das 3-stufige ABS für den Off-Road Einsatz zu deaktivieren, was nicht immer gelang. Dazu läuft die Bestätigung nicht zwingend intuitiv und man musste sich erst mein einfinden. Nicht genug, dass das Rollrad unpräzise arbeitet, es ist rechts angebracht und im Fahrbetrieb nur schwer zu bedienen. Hier muss unbedingt nachgearbeitet werden!

Puristisch aber völlig ausstreichend, wäre da nicht die Menüführung über das Rollrad rechts unterm Kill-Schalter

Das hochkant Roadbook-mäßig verbaute 5 Zoll TFT Farb-Display ist dafür ein Traum. Brilliant ablesbar, klar strukturiert und dreifach in „Street“, „Explorer“ und „Raid“ Design konfigurierbar. Gerade im letztgenannten Modus stehen zwei separate Kilometerzähler zur Verfügung, welche über Bedientasten links einfach gesteuert werden können und so eine Roadbook-Navigation leicht machen – da kommt Rally-Feeling auf.

Über die Yamaha-eigene MyRide App, lassen sich das Smartphone einfach connecten und nützliche Daten austauschen. Und sollte das Telefon mal leer sein, so befindet sich unter der zweigeteilten hinteren Sitzbank ein gepolstertes und abgedichtetes Ladefach mit USB-Ladebuchse. Auch findet sich im Cockpit eine Leistungsstarke Steckdose, die weitere Anschlussmöglichkeiten bietet.

On-Road Performance – es braucht nicht mehr

Die neueste Ténéré Generation überzeugt mit einer großartigen Straßenperformance. Egal ob über Land oder auf engen verwinkelten Bergpässen, ihr ist kein Eck trotz der langen Federwege und dem recht steilen Lenkkopfwinkel zu eng und keine Gerade zu lang. Sie zieht drehfreudig durch und kommt gut ohne Helferlein aus. Natürlich darf man keine Drehmomentexplosion erwarten, aber dies braucht es auch nicht um sportlich oder gechillt das nächste Ziel am Horizont zu erreichen. Und ankert man mal recht ambitioniert vor der nächsten Ecke, so bleibt die Front sehr stabil und knickt trotz der 230 Millimeter Federweg nicht störend ein. Fehlt eigentlich nur noch ein Tempomat und Quickshifter für noch mehr Landstraßenkomfort.

Off-Road Performance – es braucht keine Traktionskontrolle

In unser heutigen Zeit muss alles narrensicher und abgesichert sein. Yamaha sichert aber mit ihrem 3-fach einstellbaren ABS nur das notwendigste ab und verzichtet ua. auf eine inzwischen übliche Traktionskontrolle. Diese braucht es aber auch nicht, da der Gaseinsatz so gefühlvoll und präzise erfolgt, dass Hirn, Gashand, Hinterrad und Driftwinkel eine Einheit bilden. Die Balance und Ausgeglichenheit machen es selbst Off-Road-Einsteigern einfach im Gelände klarzukommen. Selbst in tiefem Geläuf surft die Ténéré mit ihrem 21 Zoll Vorderrad spielerisch drüber. Tiefe Löcher, grobe Steine und Spurrillen bügelt das Fahrwerk in einer stoischen Ruhe weg und gibt einem das Gefühl der Unbesiegbarkeit. Selbst schnell durchfahrene Wellen oder Sprünge, bringen die Federelemente nicht an ihre Grenzen. Und geht es eher mal technisch Trail-artig zur Sache mit engen langsamen Ecken über grobe Steine und durch ausgewaschene Furchen, so hält man trotz ihres für den Enduro-Einsatz stattlichen Gewichtes von 220 Kilogramm spielerisch die Balance. Nicht zuletzt geschuldet des breiten gut handelbaren Lenkers, den griffigen etwas größeren Rasten und des hervorragenden Knieschlusses im Stehen.

Fazit

Wer mehr Wert auf Reisen legt, der sollte unbedingt die World Raid der Standard vorziehen. Zwar kostet sie mit 12.874 Euro etwas mehr, ist schwerer und etwas höher, der Performancegewinn in allen Lagen überzeugen jedoch. Auf den gut 340 Kilometern Testfahrt von Lorca nach Granada mit viel Geländeeinsatz überzeuge die World Raid. Selbst die Rally-Version kann Fahrwerkstechnisch nicht mithalten. Und wenn man sich mit der Rollradproblematik mal angefreundet und den Druckpunkt gefunden hat, kann jedes Abenteuer unter die Räder genommen werden. Yamaha unterstützt Dein Vorhaben mit umfangreichem individuell konfigurierbaren Zubehörpaketen.

Impressionen vom Yamaha Ténéré 700 World Raid Test in Andalusien

Kurzcheck

Positiv

  • Hervorragende Federelemente mit Reserven
  • Brillantes Farb-Display im Roadbook-Look
  • Großartig ausbalanciert
  • Lange Serviceintervalle

Negativ

  • Rollrad Bedienung & Positionierung rechts
  • Fehlender Quickshifter & Tempomat
  • Zu kurz ausgelegter Pömpel am Ständer

Technische Daten

Motor
Motortyp4 Ventile;4-Takt, Flüssigkeitsgekühlt, DOHC
Hubraum689 ccm
Bohrung x Hub80,0 x 68,6 mm
Verdichtung11,5:1
Leistung54,0 kW (73,4 PS) bei 9.000 U/min
Leistung A2 Version35,0 kW (47,6 PS) bei 7.750 U/min
Drehmoment68,0 Nm bei 6.500 U/min
SchmierungNasssumpf
KupplungÖlbad, Mehrscheiben
ZündungTransistor
StartsystemElektrisch
Getriebesequentielles Getriebe, 6-Gang
SekundärantriebKette
GemischaufbereitungBenzineinspritzung
Kraftstoffverbrauch4,3 L / 100 km
CO2 Emission100 g/km
Fahrwerk
RahmenbauartDoppelschleifen, Zentralrohr
Lenkkopfwinkel27°
Nachlauf105 mm
Federung vornUpside-Down-Telegabel / 230 mm Federweg
Federung hintenÜber Hebelsystem angelenktes Federbein, Schwinge / 220 mm Federweg
Bremse vornABS (abschaltbar) / Hydraulische Doppelscheibenbremse, Ø 282 mm
Bremse hintenABS (abschaltbar) / Hydraulische Scheibenbremse, Ø 245 mm
Reifen vorn90/90-21 M/C 54V
Reifen hinten150/70 R 18 M/C 70V M+S
Abmessungen
Gesamtlänge2.370 mm
Gesamtbreite905 mm
Gesamthöhe1.490 mm
Sitzhöhe890 mm
Radstand1.595 mm
Bodenfreiheit255 mm
Gewicht220 Kg (fahrfertig / vollgetankt)
Tankinhalt23 Liter
Öltankinhalt3 Liter

Technische Daten Yamaha Ténéré 700 World Raid – Stand Feb.2022

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